Das Hungern als Ziel?

(Frage 175) Einleitung: Ein Herr schickte mir zusammen mit seinem Brief einen Artikel eines Maulvī (Gelehrten), mit der Bitte um Stellungnahme. Dazu wurde hier eine Untersuchung niedergeschrieben. Im Folgenden werden beide Texte wiedergegeben:

Artikel: Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf eine sehr notwendige Korrektur im Zusammenhang mit dem Fasten im Ramaḍān lenken, da Sie, soweit ich mich erinnere, bisher auf diesen wichtigen Punkt nicht hingewiesen haben.

Es ist unbestritten, dass das eigentliche Ziel des Fastens im Ramaḍān darin liegt, die tierische Triebkraft (quwwat bahīmiyya) zu schwächen und die engelgleiche Kraft (quwwat malakiyya) zur Vorherrschaft zu bringen. Deshalb hat der Gesetzgeber (shāriʿ) den Menschen für einige Tage von jenen Reizen und Stimuli abgehalten, die die tierische Triebkraft erregen – also vom Essen und Trinken sowie vom geschlechtlichen Genuss mit der Frau. Wenn man diese drei Dinge unterlässt, ist die materielle Seite des Fastens erfüllt. Darum haben die Kenner der Geheimnisse der Religion (ʿilm asrār ad-dīn) als Bedingung für die Vollendung des Fastens hervorgehoben, dass man die Nahrung soweit wie möglich einschränken soll.

So schreibt Imām al-Ghazālī in der „Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn“, dass die fünfte Bedingung für die Vollkommenheit des Fastens darin besteht, beim Ifṭār selbst von Erlaubtem (ḥalāl) nicht so viel zu essen, dass der Bauch sich füllt. Denn kein Gefäß ist bei Allāh verhasster als der Bauch, der mit (auch erlaubter) Nahrung gefüllt wird. Wie kann also durch das Fasten der Feind Gottes besiegt und die Begierde (shahwa nafsiyya) überwunden werden, wenn der Fastende beim Ifṭār das, was er tagsüber entbehrt hat, vollständig nachholt – ja oft sogar mit zusätzlichen Speisen übertrifft? Dies ist so sehr zur Gewohnheit geworden, dass für den Ramaḍān besonders viele und besondere Speisen bereitgestellt werden, die man in den übrigen Monaten gar nicht isst. Dabei ist doch bekannt, dass das Ziel des Fastens Hunger und die Niederwerfung der Triebseele (nafs) ist, damit diese die Kraft zur Gottesfurcht (taqwā) erlangt. Doch wenn man den Magen von Morgen bis Abend leer hält, so dass er sich nach Speise sehnt, und ihn dann mit köstlichen Speisen füllt, steigert man die Lust nur, verstärkt ihre Kraft, und erweckt Begierden, die zuvor fast erloschen waren.

Kurz: Der Sinn des Fastens ist es, jene Kräfte zu schwächen, die Werkzeuge Satans sind, um zum Bösen zu neigen – und dieses Ziel kann nur durch Verminderung der Nahrung erreicht werden. Der Fastende sollte daher nur das essen, was er auch sonst gewöhnlich außerhalb des Ramaḍān isst, und nicht beide Mahlzeiten (ṣubḥ & maṣāʾ) zusammenlegen. Andernfalls wird er vom Fasten keinen Nutzen haben. Zu den Adāb des Fastens gehört vielmehr, dass man tagsüber den Hunger und Durst tatsächlich spürt und die Schwäche der eigenen Kräfte empfindet.

Dies wird auch durch die Ḥadīth-Literatur gestützt: In der Zeit des Propheten ﷺ und der Ṣaḥāba wurde in Ramaḍān nicht mehr gegessen als sonst. Die übliche Nahrung wurde auch im Ramaḍān beibehalten. Der Gesandte Gottes ﷺ pflegte mit Datteln oder Wasser zu fastenbrechen. Beim Saḥūr gab es eine Überlieferung, dass er nur Datteln aß; später brachten einige Gefährten geröstete Gersten mit Wasser vermischt, das er dann trank. Darüber hinaus ist aus jener gesegneten Zeit keine besondere Vielfalt oder Pracht an Speisen zu erkennen.

Doch wie ist der Zustand der Muslime heute? Der Ramaḍān ist zu einem Fest oder gesellschaftlichen Anlass geworden. Selbst einfache Leute halten beim Ifṭār bestimmte Dinge für unverzichtbar, wie Kichererbsen oder Frittiertes. Für das Saḥūr ist Milch fast zur Pflicht erhoben worden. Wer sonst nur Linsen und Brot aß, ergänzt nun mindestens Gemüse. Wohlhabende Haushalte verwandeln den Tisch in ein buntes Speisenbukett. Die Feierlichkeiten bei Einladungen geraten in Hochstimmung. Die Zeremonie der Fasten-Einweihung (zum Anlass des ersten Fastens eines Kindes) wird zur reinen Hochzeitszeremonie. Und dies betrifft nicht nur gewöhnliche Weltleute – auch viele ʿUlamāʾ und Ṣūfiyyāʾ sind in diese Lebensweise verstrickt. Anstatt in Ramaḍān Qurʾān und Ḥadīth zu lehren, schließen manche arabische Madāris (islamische Bildungsinstitute) für den „Komfort“. Ich las sogar über ein Zentrum des Sufismus, wo die Murīds vom Maghrib bis zum Saḥūr wach bleiben und hauptsächlich damit beschäftigt sind, edle Speisen zu genießen. Drei Runden Tee – vor, während und nach Tarāwīh – sind dort selbstverständlich.

Da Sie selbst überwiegend von ʿUlamāʾ und Ṣūfiyyāʾ umgeben sind, bitte ich Sie dringend, mich und die Leser aufzuklären: Was ist die Quelle und Grundlage für diese Praxis, und widerspricht dieser Zustand nicht den Zielen (maqāṣid) des Fastens?

Kalimat al-qawm fī ḥikmat aṣ-ṣawm
(Das Wort der Gemeinde über die Weisheit des Fastens)

Antwort: Nach Lobpreis und Segenswünschen; bevor wir das eigentliche Ziel der Untersuchung behandeln, sind einige Vorbemerkungen nötig.

1) Einteilung der Rechtsbestimmungen (aḥkām)

Rechtsbestimmungen lassen sich ihrem Begründungscharakter nach in drei Kategorien einteilen:

    1. Manṣūṣ (durch Text/Offenbarung ausdrücklich belegt),
    2. Ijtihādī (durch rechtsmethodische Ableitung erschlossen),
    3. Zauqī (auf innerer, spiritueller Erfahrung beruhend).

Bei den ijtihādī-Urteilen ist mit ijtihād genau das gemeint, was die Fuqahāʾ darunter verstehen. Solche Urteile sind der Sache nach vom Text begründet; der ijtihād macht sie nur sichtbar. Daher heißt es: al-qiyās muẓhirun, lā muthbitun. („Der Analogieschluss offenbart [ein bereits Begründetes], er begründet es nicht selbst.“)

Die zauqī-Urteile hingegen sind nicht Textbedeutungen – weder unmittelbar (wie manṣūṣ) noch mittelbar (wie ijtihādī). Sie sind rein erfahrungsbezogen (wujdānī). Darin liegt ihr Unterschied: ijtihādī-Urteile sind madlūl (Bedeutung) des Textes; zauqī-Urteile nicht. Darum sind solche zauqī-Urteile nicht von den Mujtahidīn überliefert, und niemand ist verpflichtet, sie anzunehmen. Sie gründen einzig auf der inneren Wahrnehmung der ahl al-zauq.

Allerdings werden manche zauqī-Auffassungen durch Hinweise/Anspielungen (ishārāt) aus Qurʾān und Sunna gestützt. Dann ist ihre Annahme erlaubt. Widersprechen sie Qurʾān und Sunna, ist ihre Zurückweisung Pflicht. Sind sie weder gestützt noch widerlegt, bleibt Raum für beide Seiten. Ebenso, wenn ein ṣāḥib zauq etwas empfindet, ein anderer allerdings das Gegenteil – auch dann gibt es Spielraum. Kurz: ijtihādīyāt gehören zur Fiqh, zauqīyāt zum Taṣawwuf.

Ijtihādī-Urteile beruhen auf einer ʿilla (Rechtsbegründung), mittels der eine Übertragung des Urteils (taʿdīya) möglich ist. Zauqī-Urteile basieren auf reiner ḥikma (Weisheit) – zudem sind sie nicht textlich bestimmt. Aus einer Weisheit wird kein Urteil übertragen, und das Urteil steht nicht in steter Kopplung zu ihrer Anwesenheit oder Abwesenheit. Dieses Nicht-Rotieren auf einer bloßen Weisheit findet sich sogar bei manchem manṣūṣ – z. B. raml (rasch schreiten) im ṭawāf: Es hatte eine Weisheitsbegründung, diese blieb aber nicht Dreh- und Angelpunkt des Urteils. Gleichwohl sind nicht alle Fragen des Taṣawwuf von dieser Art; einige sind ijtihādī, manche sogar manṣūṣ. Gemeint ist: Wo zauq maßgeblich ist, dort gilt diese Eigenart.

Unter einem weiteren Blickwinkel teilen sich aḥkām in Maqāṣid (Ziele) und Muqaddimāt (Mittel/Voraussetzungen). Zauqī-Urteile sind nur Mittel, keine Ziele. Die Ziele sind entweder manṣūṣ oder ijtihādī. Manṣūṣ und ijtihādī bilden (somit) die Scharīʿa. Zauqī-Urteile sind nicht Scharīʿa – man darf sie allenfalls „Geheimnisse der Scharīʿa“ (asrār ash-sharīʿa) nennen.

Diese Grundlagen sind den Kennern der Rechtsmethodik geläufig.

2) Anwendung auf die Streitfrage

Die hier diskutierte Frage ist weder manṣūṣ noch ijtihādī, sondern rein zauqī – und auch darin umstritten. So ist dies der zauq (fortan als spirituelle Neigung übersetzt) von Imām al-Ghazālī; was er im „Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn“ dazu sagt, gründet auf dieser spirituellen Neigung; zudem beschränkt er dies nicht auf den Ramaḍān, sondern vertritt diese Ansicht allgemein zum Thema Hungern.

Andere haben eine entgegengesetzte spirituelle Neigung. So zitiert ʿAlī al-Qārī in seiner „Sharḥ Shamāʾil at-Tirmiḏī“ Ibn al-Jauzī: „Zu den Unwissenden unter den Sufis gehört, die Nahrung stark zu vermindern, Fettes zu meiden, den Körper auszutrocknen, sich mit grober Wolle zu kasteien und auf kaltes Wasser zu verzichten. Das war weder die Lebensweise des Gesandten Gottes ﷺ noch die seiner Gefährten und Nachfolger. Sie litten nur dann Hunger, wenn sie nichts fanden; fanden sie etwas, aßen sie.“

Und Shāh Walī Allāh schreibt in „Ḥujjat Allāh al-bāligha“, im Kapitel über das Fasten: „Es gibt zwei Wege, Essen und Trinken zu vermindern: (1) nur sehr geringe Mengen zu nehmen; (2) die Abstände zwischen den Mahlzeiten über das Übliche zu verlängern. Maßgebend in der Scharīʿa ist der zweite Weg: Er erleichtert, reinigt, lässt Hunger und Durst tatsächlich schmecken, versetzt das Tierische in Verwirrung und dringt spürbar auf es ein. Der erste Weg hingegen schwächt krankhaft, ohne die Erfahrung zu vermitteln – ja, er kann bis zur Siechtum führen. Außerdem lässt sich der erste Weg kaum allgemein gesetzlich machen, da die Menschen sehr verschieden veranlagt sind.“

Damit ist klar: In der strittigen Sache bestehen verschiedene spirituelle Neigungen. Nun ist zu prüfen, welche davon Qurʾān und Sunna näher steht – durch Abgleich der Stützargumente (muʾayyidāt).

3) Stützargumente für Zauq I

(a) „Euch ist das Fasten vorgeschrieben, wie es denjenigen vorgeschrieben war, die vor euch waren, damit ihr gottesfürchtig werdet“ (2:183) – das heißt, damit ihr euch vor Sünden hütet. Denn das Fasten schwächt oder bricht die Begierde, welche die Mutter (aller) Sünden ist.

(b) Der Gesandte Allāhs ﷺ sagte: „O ihr jungen Männer! Wer von euch die Möglichkeit zur Heirat hat, der soll heiraten; denn sie senkt den Blick und bewahrt die Keuschheit. Und wer dazu nicht imstande ist, der soll fasten, denn das Fasten ist für ihn ein Schutz.“ Überliefert bei al-Buḫārī und Muslim.

(c) Überlieferungen über Vorzüge des Hungers und Tadel des Völlens.

Einwände gegen diese Stützen

Zu (a): Diese Exegese ist nicht zwingend; andere Deutungen sind möglich (muḥtamal). So berichtet aṭ-Ṭabarī nach as-Suddi: „… damit ihr euch [am Tage] vor Speise, Trank und Frauen hütet, wie es die vor euch taten.“ In an-Nīshābūrīs Tafsīr heißt es sinngemäß: „Damit ihr sie [diese Pflicht] achtet, weil sie bedeutsam und ehrwürdig ist …“  oder: „Damit ihr euch in die Reihe der Gottesfürchtigen einordnet, denn das Fasten ist deren Kennzeichen.“ Und selbst wenn man die erste Auslegung akzeptierte, bliebe fraglich, ob das Brechen der triebhaften Kraft allein an Speisereduktion hängt. (So bereits oben bei Shāh Walī Allāh; s. auch unten.)

Zu (b): Der Ḥadīth nennt eine Eigenschaft des Fastens (Schutz), nicht die Gesetzgebungsweisheit. Und diese Eigenschaft ist nicht davon abhängig, das Essen zu reduzieren. Erfahrungsgemäß tritt im Ramaḍān trotz „Genusses der entbehrten Dinge“ spürliche Schwäche ein. Das Geheimnis: Normalerweise aß man zweimal mit Appetit; nun nur einmal [am Abend] mit Appetit, während zur Suḥūr-Zeit – mangels Gewohnheit – ohne rechten Appetit gegessen wird. Das wird daher weder „Teil des Körpers“ (juzʾ al-badan) noch ein wirklicher Ersatz (badal). Kommt dann die gewohnte Tageszeit, regt sich appetitbedingt Verlangen – bleibt aber ungestillt; so entsteht Schwäche. Diese Schwäche ist in den mittleren zehn Tagen spürbar, in den letzten zehn noch stärker.

Wären es Monate des Fastens, änderte sich die Gewohnheit an Essenszeiten, man äße wieder zu beiden Zeiten mit Appetit; es würde zum Teil des Körpers, die Schwäche verliefe – und die Brechung der Begierde bliebe aus. Darum ist das dauernde Fasten (ṣawm ad-dahr) unerwünscht; ṣawm Dāʾūd (abwechselnd fasten) ändert die alte Gewohnheit nicht, daher ist es – mit Hinweis auf seine Vorzüglichkeit – erlaubt wurden. Dieselbe Erwägung ließe sich auch zu (a) anführen: Nehme man die Exegese an, so bricht das Fasten die Begierde unter allen Umständen [auch ohne das Hungern].

Zu (c): Die Ḥadīthe über den Vorzug des Hungers können erzwungenen (iḍṭirārī) Hunger meinen (um den Vorzug im Sinne haltend, wenn nichts verfügbar ist, Geduld an den Tag zu legen) – wie die Vorzüge von Krankheiten nicht heißen, man solle Krankheit absichtlich herbei bringen. Der Qurʾān zählt in „Und Wir werden euch gewiss prüfen …“ (2:155) den Hunger unter die Prüfungen – welche allesamt unfreiwillig sind. Deshalb kann damit auch solch unfreiwilliger Hunger gemeint sein. Auch der Tadel des Sattessens betrifft wohl das Übermaß (shabaʿ mufaṛiṭ). So heißt es in einem Ḥadīṯ: „die von ihnen am sattesten (ashbaʿ ) sind“ –, nicht „wer von ihnen satt ist“. Ein solches Übermaß erklärten auch die Fuqahāʾ für verboten (ḥarām) – vgl. ad-Durr al-Mukhtār/Radd al-Muḥtār, Kitāb al-Karāhiyya.

4) Stützargumente für Zauq II

Dies waren die Stützargumente für die erste spirituelle Neigung. Jetzt erwähne ich die für die zweite Neigung:

a) Im Ḥadīth heißt es: „Ein Monat, in dem die Versorgung (rizq) des Gläubigen vermehrt wird.“ (Mishkāt nach al-Bayhaqī)
Ist es sinnvoll, dass der Rizq im Ramaḍān vermehrt wird, man aber anweist, seine volle Nutzung bis Shawwāl aufzuschieben?

b) Zum Iftār sind folgende prophetischen Worte überliefert: „Der Durst ist vergangen, die Adern sind benetzt, und der Lohn ist festgeschrieben – so Allāh will.“ (Abū Dāwūd) Das Vergehen des Durstes und Benetzen der Adern geschieht selbstverständlich nicht ohne reichliches Trinken. Und dennoch wird der Lohn dadurch nicht verringert; vielmehr ist das Feststehen des Lohnes darin ausdrücklich belegt. Und zwischen Essen und Trinken gibt es keinen nachvollziehbaren Unterschied – dass das eine als Sättigung wünschenswert wäre und das andere als unerwünscht.

c) Der Lohn, einen Fastenden satt zu machen (ashbaʿa ṣ-ṣāʾim), wird in Überlieferungen erwähnt (Mishkāt nach al-Bayhaqī). Wäre Sattheit verwerflich, wäre ihr Herbeiführen – als Ursache und Hilfe – ebenfalls verwerflich; die Vorstufe gälte wie die Sache selbst, nicht als Lohnursache.

d) Sattheit (shabaʿ) und Sättigung/Tränkung (riyy) gehören zu den Vorstufen der Begierde; der Beischlaf ist die tatsächliche Erfüllung dieser (Begierde). Wenn Sattheit/Tränkung [im Anschluss auf das Fasten] die Seele des Fastens vereiteln, dann Beischlaf erst recht. Doch niemand hat zu dessen Reduktion gemahnt; vielmehr wurde es im Modus der Gnade weit erlaubt: „So jetzt verkehrt mit ihnen und sucht, was Allāh euch bestimmt hat…“  – danach wurde direkt „und esst und trinkt…“ angeknüpft. Und für all das hat Er als Grenze bestimmt: „bis sich euch der weiße Faden [des Morgens] klar unterscheidet vom schwarzen Faden [der Nacht], [nämlich] der Morgendämmerung.“ (2:187)

e) Wenn eine Verringerung der Nahrungsaufnahme im Ramadan ein eigentlich beabsichtigtes Ziel wäre, warum findet sich dann weder in den Texten (nuṣūṣ) noch Ausführungen der Rechtsgelehrten über die Vorzüge des Fastens keine eigene Erwähnung seiner Vorzüglichkeit – und in den Texten über die Verwerflichkeiten des Fastens keine ausdrückliche Missbilligung der Sättigung? Führt dies nicht zu einer Schwierigkeit im Hinblick auf (die göttliche Aussage) Heute habe Ich euch eure Religion vervollkommnet.“ (5:3)

Dies sind fünf deutliche Stützen für Zauq II, die mir spontan einfielen. Und selbst wenn die Vertreter von Zauq I Einwände vorbringen – das schadet nicht; in strittigen Urteilen gibt es nämlich Spielraum für beide Seiten. Entsprechend wird verlangt, dass die Vertreter von Zauq I die von Zauq II nicht tadeln, verhöhnen oder geringschätzen. Differenzen in Zauqī-Fragen sind kein Übel. In der Umma sind zahlreiche Fragen strittig – etwa das Bittgebet nach dem Pflichtgebet oder dessen Unterlassung, Ergreifen oder Unterlassen von Mitteln, u. a.

Zudem ist diese Frage kein strenger Sachverhalt des Fiqh, der soviel Aufwand verlangen würde. Die Fuqahāʾ haben bis in die mustaḥabbāt hinein kodifiziert, doch hierzu nirgends explizit Stellung genommen. Wäre es selbst rechtswissenschaftlicher (fiqhī) Natur, bliebe bei Meinungsunterschied dennoch derselbe Tenor: Weite. Bis hierhin ist gehofft, dass die eigentlichen Bedenken in Frage beantwortet wurden. Nun folgen nur noch einige zusätzliche Ausführungen in Kürze:

5) Zusatzausführungen (zawāʾid)

  1. Dass es zur Zeit der Ṣaḥāba keinen besonderen Speiseaufwand im Ramaḍān gab, ist kein zwingendes Argument: Ihre Lebensweise war in allem schlicht – entsprechend auch die Praxis. Wie sie für Ramaḍān kein Plus an Speisen bereiteten, so betrieben sie auch nicht eigens Reduktion. Wie ließe sich daraus – mit Bezug auf eine besondere „Weisheit“ – ein Hunger-Aufwand beweisen?
  2. Wenn man den Ramaḍān zum (mäßigen) Anlass macht und sich dabei innerhalb der Grenzen hält – was schadet es? Im Ḥadīth selber heißt es sinngemäß, dass das Paradies das gesamte Jahr lang für den Ramaḍān geschmückt wird. (Mishkāt nach al-Bayhaqī) Wenn man dem nacheifert und auch hier etwas Aufwand betreibt – wo läge der Schaden?
  3. Das „Einladungs-Getriebe“ ist eine Form der gegenseitigen Fürsorge (muwāsāt), womit dieser Monat in Überlieferungen ausgezeichnet wurde. (Mishkāt nach al-Bayhaqī).
  4. Die Fasten-Einweihung ist ebenso ein Fall der erwähnten Freude beim Fastenbrechen (farḥa ʿinda al-fiṭr). Und warum sollte die Freude über die tawfiq zur Religion des Nachwuchses verwerflich sein? Wobei dies im Qurʾān „Augenweide, Labsal der Augen“ (qurratu l-ʿayn) genannt wurde.
  5. Warum ist die Erholung zur Ferienzeit an Madāris mit der Gelegenheit für die Taten des Ramadan unvereinbar, und warum können sie nicht gleichzeitig stattfinden?
  6. Von den Ṣūfiyya aus zu antworten, steht im Widerspruch zu ihrem eigenen Ethos; sie selbst betrachten sich als die Demütigsten und Geringsten und verbieten sich dadurch quasi von selbst jede Unterstützung. „Sprich nicht zu dem Anspruchsteller über die Geheimnisse von Liebe und Ekstase, lass ihn in seinem eigenen Leiden an Selbstsucht sterben.“

In Bezug auf die restlichen Werke der Ṣūfiyya gelang diesem Geringsten keine wirkliche Nachahmung; doch als ich von jener Tee-Runde hörte (die mir zuvor nicht bekannt war), regte es mein Verlangen an – „In der Tat: eine gute Methode, um wach zu bleiben!“ – Es blieb aber bei dem Verlangen. Denn sonst ginge mir Schlaf verloren; und es gibt andere, die noch begieriger danach sind. Wie mir – bei der Speisereduktion – jene spirituelle Neigung gefiel, in dem auch Sättigung vorkommen darf, so gefällt mir – bei der Schlafreduktion – der Weg, der keine Übermüdung fordert. Dieser Weg ist:

„Wer das ʿIshāʾ als Gemeinschaftsgebet verrichtet, dem gilt es, als habe er die halbe Nacht gebetet; und wer das Ṣubḥ (Fajr) in Gemeinschaft betet, dem gilt es, als habe er die ganze Nacht gebetet.“ (Mālik und Muslim) Anas (möge Allah mit ihm zufrieden sein) sagte in Bezug auf „Ihre Seiten weichen vor den Schlafstätten zurück.“ (32:16), dies sei zwischen Maghrib und ʿIshāʾ. Ebenfalls wird von Anas überliefert: Der Vers wurde über das Warten auf das Gebet, das al-ʿatama genannt wird, offenbart. Weiter sagt Anas zu „Sie pflegten nur wenig in der Nacht zu schlafen.“ (51:17): Sie halten sich wach und beten zwischen diesen beiden Gebeten – also zwischen Maghrib und ʿIshāʾ. Von Muḥammad b. ʿAlī: „Sie schlafen nicht, bis sie das ʿatama gebetet haben.“ Von Abū l-ʿĀliya: „Sie schlafen nicht zwischen Maghrib und ʿIshāʾ.“ (Alle in Tafsīr Ibn Jarīr) Und in ad-Durr al-Manthūr: „Sie schliefen nicht die ganze Nacht.“ Der Kommentar aus Bayān al-Qurʾān: Das „Wenig“ (qalīl) steht hier nicht dem „Viel“ gegenüber, sondern dem „Ganzen“ – es bedeutet sinngemäß „ein Teil“. Saʿīd b. al-Musaiyib sagte: „Wer an der Nacht der Bestimmung das ʿIshāʾ [in Gemeinschaft] erlebt hat, hat Anteil an ihr genommen.“ (Muwaṭṭaʾ von Imām Mālik.) Ich sage: Es ist, als wäre das eine Erklärung des marfūʿ-Ḥadīthes „Wer ihres Guten beraubt wurde, der ist wahrlich beraubt.“denn wer in Gemeinschaft anwesend war, wurde ihres Guten nicht beraubt.

Durch die Vorliebe dieses Schlafmaßes schwindet auch die Tee-Lust – und ich beruhige meine Seele so: Allah wird auch die Taten der Unzulänglichen vergeben. Mit dieser Hoffnung auf Vergebung beende ich die Ausführungen. Und da der Umfang beträchtlich wurde, verleihe ich ihr – dem Inhalt entsprechend – auch einen Titel: „Das Wort der Gemeinde über die Weisheit des Fastens.“

6) Nachtrag (Ḍamīmah)

Es ist ebenso möglich, dass die Worte Imām al-Ghazālīs nicht bloß als Ausdruck eines „Unterschiedes der spirituellen Geschmäcker“ (ikhtilāf az-zauq) zu verstehen sind, sondern dass er, in Anbetracht der Verfassung der Menschen seiner eigenen Zeit, diesen Weg als eine Form der spirituellen Übung (mujāhada) empfohlen hat. Und da die Mujāhada (geistige Anstrengung) von den jeweiligen Verhältnissen der Zeit abhängt, ändert sie sich mit deren Wandel. Heute jedoch ist die Verfassung der Menschen so schwach, dass eine derart starke Einschränkung der Nahrung zweifellos die Erfüllung der eigentlichen Gottesdienste (ṭāʿāt maqṣūda) beeinträchtigen würde.

Bleibt die Frage: Warum hat der Imām seine Aussage in einem so nachdrücklichen Ton formuliert? – Die Erklärung hierfür ist, dass die großen Ṣūfiyya bisweilen von bestimmten spirituellen Zuständen oder von bestimmten Reformanliegen völlig überwältigt werden. In einem solchen Zustand gleitet ihnen leicht eine Formulierung heraus, die wie eine absolute Betonung klingt, obwohl sie situativ bedingt ist.

An dieser Stelle ist noch ein weiterer feiner Punkt zu verstehen: nämlich, dass nach den Regeln des Taṣawwufs der eigentliche Geist der Angelegenheit in folgender Einsicht liegt: Das Ziel des spirituellen Wegschülers (sālik) ist – so die ausdrücklichen Aussagen der Imāme – die Nachahmung der Engel (tashabbuh bi-l-malāʾika). Diese Nachahmung wird jedoch sowohl durch übermäßige Sättigung (shabaʿ mufriṭ) als auch durch einen beeinträchtigenden Hunger (jūʿ mushawish) verfehlt, denn die Engel sind von beidem frei.

All diese Überlegungen gelten allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man in Bezug auf das Fasten die Weisheit der Brechung der Triebkraft (kasr quwwat ash-shahwa) als gegeben annimmt. Falls man hingegen davon ausgeht, dass das Fasten ein reiner Gottesdienstakt ohne rationale Begründung (amr taʿabbudī) ist – so wie etwa die Zahl der Fastentage, über die uns keinerlei Weisheit bekannt ist – dann fällt die ganze Frage und Antwort von vornherein weg.

Und tatsächlich: In manchen Worten des Propheten ﷺ zeigt sich deutlich dieser Charakter des taʿabbud. So etwa in der Überlieferung: „Wer den Ramaḍān fastet, im Glauben (īmān) und in Erwartung der Belohnung (iḥtisāb), dem werden seine früheren Sünden vergeben.“ (Überliefert bei al-Bukhārī und Muslim) Hier wird als Beweggrund für das Fasten Glaube und Hoffnung auf Lohn genannt – und nicht irgendeine rationale Weisheit oder Zweckmäßigkeit. Und dies ist genau der Charakter des taʿabbud.

Und Allah weiß es am besten.

25. Shaʿbān 1352 n.H.
(Zeitschrift an-Nūr, S. 9, Ausgabe Shawwāl 1353 n.H.)

(Aus Imdād al-Fatāwā, Imām Ashraf ʿAlī al-Thanwī, Band 2, S. 145–153)